von Lea Hanke

Wie kann man in einer Welt voller Widersprüche, Komplexität und ständiger Veränderung den Überblick behalten? Wie lassen sich persönliche Erfahrungen, politische Entwicklungen und gesellschaftliche Stimmungen erfassen – jenseits von festen Meinungen oder Schwarz-Weiß-Denken?
Die Künstler*innen Julia Boswank und Stefan Wartenberg gehen diese Fragen auf eine ungewöhnliche, kreative und leicht humorvolle Weise an. Mit ihrem Projekt „Poetische Diagramme“, das derzeit im Offenbacher Aliceplatz am Rathaus zu sehen ist, schaffen sie einen Raum für gemeinsames Nachdenken. Nicht durch lange Diskussionen, sondern durch das gemeinsame Zeichnen.

Diagramme als neues Ausdrucksmittel
Diagramme wirken auf den ersten Blick technisch: Linien, Achsen, Pfeile, Felder – oft kennt man sie aus Statistiken oder Wirtschaftsgrafiken. Doch Boswank und Wartenberg nutzen sie anders: als künstlerisches Werkzeug, um Gefühle und Fakten, persönliche Beobachtungen und gesellschaftliche Themen miteinander zu verbinden. Dabei entsteht eine Mischung aus Struktur und Emotion, Übersicht und überraschenden Einsichten.
In Offenbach werden die Diagramme direkt auf den Boden gesprüht, mit Kreidespray und Schablonen, mitten im öffentlichen Raum.
Ein offenes Forum im Herzen der Stadt
Der Aliceplatz, gelegen zwischen Rathaus und Komm-Center, ist ein zentraler Treffpunkt. Hier begegnen sich Alltag und Politik, Offizielles und Privates. Für einige Tage wird der Platz zu einem offenen Forum, in dem Menschen aus Offenbach ihre Perspektiven sichtbar machen können.
Das Projekt ist keine fertige Ausstellung, sondern ein offener Prozess. Jede*r, egal ob jung oder alt, mit oder ohne künstlerische Erfahrung, kann mitmachen. Es geht nicht um Perfektion, sondern darum, Gedanken sichtbar zu machen: Was beschäftigt mich? Wie sehe ich die Welt? Welche Verbindungen gibt es zwischen meinem Leben und dem großen Ganzen?
Mit Schulen in Offenbach gemeinsam kreativ
Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Zusammenarbeit mit Offenbacher Schulen. Schülerinnen und Schüler sind eingeladen, an den poetischen Diagrammen mitzuwirken und so ihre eigenen Sichtweisen einzubringen. So wird das Projekt auch ein Austauschort für junge Menschen. Dadurch treffen gesellschaftskritische Themen der Künstler beispielsweise auch auf die Gedanken junger Grundschulkinder: Dass sie ihre Mama lieben, oder in wen sie gerade verknallt sind – eine Begegnung von vielen verschiedenen Themen.

Sichtbar und vergänglich
Die Bodenbilder sind mehr als Kunstwerke – sie sind Momentaufnahmen eines gemeinsamen Denkens und spiegeln die aktuelle Stimmung in der Stadt wider. Gleichzeitig sind sie bewusst vergänglich: Durch das Begehen des Platzes verblassen die Kreidezeichnungen nach und nach.
Diese Vergänglichkeit macht den besonderen Reiz aus: Die „Boden-Zeitung“ ist aktuell, offen für alle und verändert sich mit jeder Beteiligung. Wer mitmacht, gestaltet die Stadtkultur Offenbachs aktiv mit – mit physischer Kreide statt Tastatur im Internet.
Offenbach denkt mit
Das Projekt „Poetische Diagramme“ ist eine Produktion von DIAMANT OFFENBACH, einer Plattform für künstlerische Prozesse im öffentlichen Raum. Unterstützt von Heiner Blum, Max Brück und Mignon Vahl verwandeln Julia Boswank und Stefan Wartenberg den Aliceplatz in ein Mitmach-Labor für alle.
Es geht um mehr als klassische Kunst. Es geht um Teilhabe und das gemeinsame Nachdenken über unsere Gesellschaft. Offenbach: mit seiner Vielfalt an Menschen, Sprachen und Geschichten – wird selbst zum Ausdrucksmittel.

Mitmachen ausdrücklich erwünscht!
Morgen, am 12. Juni, von 15 bis 18 Uhr, laden die Künstler*innen erneut zum offenen Mitmachen ein. Ob allein, mit Freund*innen oder mit Kindern – jede*r ist willkommen, sich zu beteiligen.
Vorkenntnisse sind nicht nötig. Nur ein bisschen Zeit, Neugier und die Lust, die eigene Sicht auf die Welt einmal nicht in Worte, sondern in Linien und Farben auszudrücken.
